Hanna Reitsch war das zweite von drei Kindern des Arztes Willy Reitsch, der eine Augenklinik leitete, und seiner Frau Emy. Hanna träumte bereits als Kind von der Fliegerei und gab als Traumberuf «fliegende Missionsärztin» an.
An schulfreien Tagen radelte sie nach Grunau zum Segelflugplatz. Dort lernte sie Anfang der 1930er Jahre auch den jungen Wernher von Braun (der spätere Raketenwissenschaftler) kennen, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft verband. Im Jahr 1931 absolvierte sie ihr Abitur, anschliessend besuchte sie die Frauenschule in Rendsburg. Ab 1932 studierte sie Medizin in Berlin und Kiel.
Erste fliegerische Erfolge
Neben ihrem Studium erwarb die nur 1,50 Meter grosse Hanna den Segel- und Motorflugschein auf dem Flugplatz Berlin-Staaken. Noch im selben Jahr stellte sie bereits den Dauer-Segelflugrekord für Frauen (5,5 Stunden in der Luft) auf. Reitsch wurde 1933 gebeten, als Fluglehrerin an der neuen Segelfliegerschule auf dem Hornberg bei Schwäbisch Gmünd zu arbeiten.
Von 1933 bis 1934 nahm sie an einer Forschungsexpedition in Brasilien und Argentinien teil und brach ihr Medizinstudium nach vier Semestern zugunsten der Fliegerei ab. 1936 stellte sie mit 305 Kilometer einen neuen Streckenweltrekord im Segelflug der Frauen auf, weitere Rekorde folgten.
Versuchs- und Erprobungspilotin
Ab Juni 1934 an arbeitete Hanna Reitsch als Versuchspilotin für die Deutsche Forschungsanstalt für Segelflug (DFS) in Griesheim. Dabei arbeitete sie eng mit dem bekannten Konstrukteur und Abteilungsleiter Hans Jacobs zusammen. Als erste Frau der Welt wurde sie 1937 von Ernst Udet zum Flugkapitän ehrenhalber ernannt und im September 1937 als Versuchspilotin an die Flugerprobungsstelle der Luftwaffe Rechlin berufen. Dort erprobte sie Stukas, Bomber und Jagdflugzeuge.
Von 1937 an flog sie auch den von Henrich Focke gebauten Helikopter Focke-Wulf Fw 61 (später umbenannt in Fa 61). Im gleichen Jahr stellte sie zusammen mit dem ehemaligen Kunstflieger und Testpiloten Gerd Achgelis einen Streckenweltrekord von 109 km für Helikopter auf. 1938 führte Reitsch in der Deutschlandhalle in Berlin den ersten Hubschrauber-Hallenflug der Welt vor. Auch ein Flug im November 1938 mit dem Motorsegler und Nur-Flügler Horten H II (Kennzeichen D-11-187) der Brüder Horten ist durch einen ihrer Testberichte detailliert dokumentiert, in dem sie u.a. vermerkte, dass sie den Fahrwerkhebel auf Grund ihrer zu kurzen Arme nicht bedienen konnte!
Hanna Reitsch wird Raketenfliegerin
Mit der Dornier Do 17 und der Heinkel He 111 flog sie Versuche, um herauszufinden, ob die Stahlseile britischer Ballonsperren mit einem vor dem Bug des Flugzeuges angebrachten Gerät zerschnitten werden konnten. 1942 flog Reitsch in Augsburg das Raketenflugzeug Messerschmitt Me 163, allerdings lediglich im reinen Schleppflug, ohne den hochexplosiven Zwei-Komponenten-Raketen-Treibstoff. Dies war Reitsch aufgrund ihrer damaligen Bedeutung für die NS-Propaganda ausdrücklich untersagt worden, da man das damit verbundene hohe Risiko eines schweren Start-Unfalls, wie er nicht selten war, nicht eingehen wollte. Dennoch wurde sie bei einem Landeunfall mit der Me 163b schwer am Kopf verletzt, als sie mit dem Gesicht in das Reflexvisier geschleudert wurde.
Nach der Genesung nahm sie an Versuchen mit der bemannten Fieseler V1 («Reichenberg») teil. Bei ihrer Erprobungstätigkeit wurde Hanna Reitsch mehrmals schwer verletzt. Für ihren Einsatz erhielt sie unter anderem das Eiserne Kreuz zweiter und erster Klasse das EK I als einzige Frau der deutschen Geschichte und das Flugzeugführer- und Beobachterabzeichen in Gold mit Brillanten (Melitta Schenk Gräfin von Stauffenberg und Hanna Reitsch waren die einzigen so ausgezeichneten Frauen).
Ab dem Winter 1943/1944 setzte Reitsch sich für die Entwicklung der «Selbstopfer»-Flugzeuge ein. Dieses Projekt, das sie am 28. Februar 1944 vorschlug, sah bemannte Bomben vor, bei denen der Tod des Piloten in Kauf genommen wurde, ähnlich dem japanischen Tokkōtai («Kamikaze»). Das Projekt stiess in der Luftwaffenführung auf erheblichen Widerstand und wurde glücklicherweise nie realisiert.
Flucht aus Berlin
Nachdem Hermann Göring von Hitler am 23. April 1945 aller Ämter enthoben wurde, flog Hanna Reitsch dessen designierten Nachfolger Robert Ritter von Greim am 26. April 1945 mit einem Fieseler Storch in das von der Roten Armee bereits eingeschlossene Berlin, damit dieser von Hitler persönlich unter gleichzeitiger Beförderung zum Generalfeldmarschall zum Oberbefehlshaber der Luftwaffe ernannt werden konnte. In der Nacht vom 28. auf den 29. April 1945 nutzten Reitsch und Greim die Charlottenburger Chaussee als Startbahn, um mit dem letzten Flugzeug, einer kleinen Arado, weiter nach Plön (Schleswig Holstein) zu fliegen, wo sich zu dieser Zeit noch Hitlers Nachfolger Karl Dönitz aufhielt. Im Anschluss flohen Reitsch und Greim weiter nach Kitzbühel, wo sie in amerikanische Kriegsgefangenschaft gerieten.
Reitsch verbrachte insgesamt 18 Monate in verschiedenen Internierungslagern. Ausführlich wurde sie dabei zu ihrem Aufenthalt im Führerbunker vernommen und im Dezember 1947 als Nichtbetroffene entnazifiziert, da sie keiner NS-Organisation angehört hatte. Ihr ganzes Leben widmete sie der Luftfahrt. Sie war an der Politik nicht interessiert, trotzdem bemängelte die Presse ihre fehlende kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Nach dem Krieg erneut Testpilotin
Ab 1954 arbeitete Reitsch erneut als Testpilotin in Darmstadt, diesmal bei der wiedergegründeten Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL). Im Jahr 1959 reiste sie auf Einladung von Premierminister Jawaharlal Nehru nach Indien, um dort ein Leistungssegelflugnetz aufzubauen. 1961 wurde sie von Präsident John F. Kennedy zu einem Besuch im Weissen Haus eingeladen und traf in den USA auch ihren Jugendfreund Wernher von Braun wieder. Von 1962 bis 1966 weilte Reitsch in Ghana, wo sie eine Segelflugschule aufbaute und leitete sowie den damaligen Präsidenten Ghanas Kwame Nkrumah als dessen Pilotin flog! Hanna Reitsch war 1968 auch Gründungsmitglied der Vereinigung Deutscher Pilotinnen. In den 1970er-Jahren errang sie weitere Rekorde in verschiedenen Flugkategorien. Sie wurde «Pilot des Jahres 1971» beim International Order of Characters, 1972 Ehrenmitglied (Honorary Fellow) der Society of Experimental Test Pilots in Kalifornien, als dritte Frau nach Jacqueline Auriol und Jacqueline Cochran, die ein Jahr zuvor diese Ehrung erhielten.
Fliegen bis zum Lebensende
Reitsch flog bis zum Lebensende. «Ich muss fliegen, fliegen!», sagte sie zu Ihren Flugkameradinnen.
Sie zählt noch heute neben ihrer fachlichen Qualifikationen als eine der besten Fliegerinnen der Welt und blieb trotz aller Erfolge das bescheidene Mädchen aus Hirschberg. In ihren beiden Büchern «Fliegen - mein Leben» und «Ich flog für Kwame Nkrumah» gab sie ihr ereignisvolles Fliegerleben preis und stellte unter Beweis, dass Frauen Flugzeuge aller Art steuern und meistern können!
Sie starb 1979 in Frankfurt am Main an Herzversagen. Auf dem Salzburger Kommunalfriedhof ist sie im Grab ihrer Familienangehörigen beigesetzt.